Europa hat die Wahl

Gebäude des Europäischen Parlaments
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Europäisches Parlament in Straßburg

Vom 22. – 25. Mai finden die achten Wahlen zum Europäischen Parlament statt. Rund 375 Millionen Bürger/innen der Europäischen Union sind dann aufgerufen, ihre Stimme abzugeben. Mit der größeren Gestaltungsmacht des Europäischen Parlaments seit Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags hat die Wahl auch politisch an Bedeutung gewonnen. Zugleich ist sie der erste europaweite Stimmungstest seit Beginn der Eurokrise im Jahr 2009 und den damit einhergehenden wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Verwerfungen innerhalb Europas.

Dominierten bei den letzten Europawahlen zumeist nationale Themen die Wahlkämpfe in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten so ist diesmal vor diesem Hintergrund davon auszugehen, dass tatsächlich Europapolitik den Wahlkampf bestimmen wird. Das ist zunächst einmal eine gute Nachricht, ebenso wie die Tatsache, dass die Berichterstattung über europäische Politik in den letzten Jahren deutlich zugenommen hat.

Ansehensverlust der EU

Dies geschieht jedoch vor dem Hintergrund eines massiven Ansehens- und Vertrauensverlusts der EU in der europäischen Bevölkerung. Laut einer Umfrage des Gallup Instituts vom Januar 2014 waren die Zustimmungswerte zur EU noch nie so gering wie heute. Dies ist unter anderem darin begründet, dass die Europäische Union ihre drei Kernversprechen – Frieden, Freiheit und Wohlstand – nur lückenhaft eingelöst hat.

Tatsächlich ist es nicht „die EU“, sondern sind es in erster Linie die Mitgliedstaaten, welche die Verantwortung für die europäische Wirtschafts- und Finanzkrise, die fehlerhafte Konstruktion des Euro und die damit verbundenen Wohlstandsverluste tragen. Aber das altbekannte Spiel der Mitgliedstaaten „Alles Schlechte kommt aus Brüssel, alles Gute aus der nationalen Hauptstadt“ funktioniert weiterhin erstaunlich gut.

So macht die griechische Regierung die „Troika“ für die wirtschaftliche Lage des Landes verantwortlich, die deutsche Regierung beschwert sich über das Diktat aus Brüssel bezüglich der Ausnahmetatbestände im Erneuerbare-Energien-Gesetz und Großbritannien sucht in Brüssel ohnehin für fast alles die Schuldigen, von starken Arbeitnehmerrechten bis zur Einwanderung. Damit tragen die Regierungen der Mitgliedstaaten in großem Maße zum öffentlichen Verdruss an den Europäischen Institutionen und an der Europäischen Idee bei. 

Vor allem aber haben es die gemäßigten Parteien in den letzten Jahren kaum geschafft, öffentliche Unterstützung für ihre Europapolitik zu generieren. Kein Wunder, denn ein Krisenmanagement, dass sich über Jahre hinweg allein durch Sachzwänge begründet wird kaum auf Begeisterung stoßen. Die meisten etablierten Parteien haben es bis heute nicht verstanden, eine positive Zukunftsvision für Europa zu entwerfen und zu vermitteln. Ideen für ein visionäres Europa, wie der „Green New Deal“ der Grünen, sind rar gesät.

Aufschwung anti-europäischer Kräfte

Die Quittung dafür dürfte bei den Europawahlen eintreffen. Denn eine Politik, welche die meisten europäischen Entscheidungen als „alternativlos“ begründet, bereitet den Boden für radikale politische Akteure, die aufzeigen, dass es durchaus Alternativen gibt. So werden die großen Gewinner der Wahlen voraussichtlich die anti-europäischen Kräfte von rechts und links sein. Vor allem die Rechtspopulisten dürften von der allgemeinen Anti-EU-Stimmung profitieren. Die britische Partei „UKIP“ oder die französische „Front National“, die österreichische „FPÖ“ ebenso wie die griechische „Goldene Morgenröte“ können sich laut aktuellen Umfragen auf Rekordergebnisse bei den Wahlen einstellen.

Für ihren Einfluss innerhalb des Parlaments wird nicht alleine das Wahlergebnis entscheidend sein, sondern auch die Frage, inwieweit sich diese unterschiedlichen Rechtsaußen-Kräfte zu gemeinsamen Fraktionen und politischen Initiativen zusammenschließen. Denkbar ist die Gründung einer neuen rechten Fraktion oder die Erweiterung der bisherigen nationalkonservativen Fraktion ECR und der rechtspopulistischen Fraktion EFD.

Aufgrund der großen programmatischen Unterschiede und nationalen Fokussierung der meisten Rechtsaußen-Parteien ist jedoch eher davon auszugehen, dass sie kein starkes gemeinsames Lager werden bilden können. Ihre Macht wird sich vermutlich darin äußern, dass sie die gemäßigten Parteien in den Mitgliedstaaten programmatisch vor sich her treiben. Dies ist zum Beispiel in den Niederlanden, Großbritannien oder Frankreich schon in den letzten Jahren zu besichtigen gewesen. Auf diese Weise sind die Rechtsaußen-Kräfte schon jetzt eine akute Bedrohung für die weitere europäische Integration.

Die Fraktionsbildung wird nach den Wahlen auch relevant werden, da es neben den Rechtsaußen-Kräften voraussichtlich eine große Zahl Abgeordneter im neuen Parlament geben wird, die sich bislang keiner Fraktion zuordnen lassen, dazu gehört beispielsweise die „Fünf Sterne“-Bewegung aus Italien, welche auf bis zu 20 Sitze hoffen kann.

Große Verluste zugunsten der Parteien am rechten Rand werden laut aktuellen Umfragen die konservativen Parteien in den meisten EU-Mitgliedstaaten hinnehmen müssen. Gewinnen dürften hingegen die sozialdemokratischen Parteien.

Das Rennen um die Kommissionspräsidentschaft

Die Machtverhältnisse im neuen Parlament sind nicht nur für die Arbeit des Parlaments während der kommenden Wahlperiode wichtig, sondern auch aufgrund einer wichtigen Neuerung im Rahmen des Lissabonner Vertrags. Demnach ist das Europawahlergebnis bei der Auswahl der/des Kommissionspräsidenten/in zu berücksichtigen, welche/r dann vom Europäischen Parlament gewählt wird. Es gibt somit erstmals eine klare Verbindung zwischen der Europawahl und der EU-Kommission als europäischer Exekutive.

Vor diesem Hintergrund gehen die europäischen Parteifamilien dieses Mal mit europaweiten Spitzenkandidat/innen ins Rennen, die gleichzeitig Kandidat/innen für das Amt der/des Kommissionspräsident/in sind. Die geschlechterneutrale Sprache ist dabei leicht irreführend, denn außer den Grünen, welche nach einer europaweiten Vorwahl eine Doppelspitze mit der Deutschen Ska Keller und dem Franzosen José Bové ins Rennen schicken, wird wohl keine Parteifamilie eine Frau aufbieten.

Die Sozialdemokraten werden den Deutschen Martin Schulz als Spitzenkandidaten nominieren, die Linke wird mit Alexis Tsipras aus Griechenland ins Rennen gehen, die Liberalen haben den Belgier Guy Verhofstadt als Präsidentschaftskandidat vorgeschlagen. Bei den Konservativen wird der Luxemburger Jean-Claude Juncker in das Rennen gehen.

Die Bedeutung der kleineren Parteifamilien

Wer letztlich das Rennen macht und die Kommission die kommenden Jahre leiten wird, hängt jedoch nicht nur vom Erfolg der eigenen Parteifamilie ab, sondern auch vom Verhandlungsgeschick nach den Wahlen. Keine Parteifamilie wird eine absolute Mehrheit haben, und so ist entscheidend, wer eine erfolgreiche Koalition wird bilden können. Das wiederum bringt auch die kleineren Parteifamilien ins Spiel und verleiht ihnen überproportionales Gewicht.

Nach derzeitigen Umfragen ist es gut möglich, dass im kommenden Parlament weder eine klare Mitte-Rechts-Mehrheit noch eine klare Mitte-Links-Mehrheit existieren wird. Dies macht die Grünen und Liberalen während der Legislatur besonders relevant, da in vielen Fällen Mehrheiten erst durch ihr Mitwirken gebildet werden können. Auch vor diesem Hintergrund ist das Rennen um die Macht innerhalb des Parlaments in den kommenden Jahren noch vollkommen offen.

Ein Augenmerk wird zudem auf die Wahlbeteiligung zu richten sein. Diese lag 2009 bei lediglich 43 Prozenzt. Sollte sie in diesem Jahr nochmals niedriger liegen, wäre das ein bedenkliches Signal für die Legitimität des Parlaments und das Ansehen der europäischen Gemeinschaftsinstitutionen.

Für den Wahlausgang wird entscheidend sein, welche Parteien in der Lage sind, ihre eigene Wählerbasis zu mobilisieren. Dazu müssen sie es schaffen, sich von der Politik der Sachzwänge zu verabschieden und eigene politische Alternativen für Europa aufzuzeigen.

Es ist bemerkenswert, wie schnell in den letzten Jahren die Unterstützung und das Ansehen der Europäischen Union in der europäischen Bevölkerung gesunken ist. Das ist umso bemerkenswerter im Kontrast zu Entwicklungen außerhalb der EU, wie derzeit in der Ukraine. Dort streiten die Menschen zurzeit mit aller Kraft für einen proeuropäischen Kurs ihres Landes. Wenn es gelingt, innerhalb der EU auch nur eine Spur dieser Leidenschaft für das europäische Projekt, für ein gemeinsames demokratisches und friedliches Europa wiederzuentdecken, dann wäre für die Europawahlen viel gewonnen.

 

Aktuelle Umfragen zu den Europawahlen sind zu finden unter PollWatch 2014